Schwäbischer Schwanengesang Ulrich Ritzels vielversprechendes Krimidébut Wenn sich die Hochliteratur nicht aufraffen kann, das von wohlmeinenden Kritikern immer wieder eingeforderte «grosse» Gesellschaftsepos zu liefern, dann bleibt zuletzt nur der Griff zum Kriminalroman, den viele Autoren in den letzten Jahren als Transportmittel für gesellschaftskritische Erörterungen entdeckten. Im Gewande blut- und spannungsgetränkter Handlungen lassen sich Gut und Böse bisweilen leichter darstellen, im Wechselspiel von Ermittler und Täter gesellschaftliche Untiefen besser ausloten. Auch der Journalist Ulrich Ritzel, Jahrgang 1940, greift in seinem späten Erstling auf einen Stoff zurück, der von Politologen, Soziologen oder Leitartiklern heutzutage viel häufiger debattiert wird als von Romanciers, und er lässt leider meist in den schwächeren Textpartien keinen Zweifel daran, der moralisch rechtschaffenen Seite zuzuneigen. Der Fall: In den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs begeht der NS-Arzt Hendrik Hendriksen einen kaltblütigen Mord, um sich eine neue Identität zu verschaffen. Als Professor Twienholt avanciert er in der nicht so genau nachfragenden bundesdeutschen Nachkriegswelt zum hochbezahlten Gutachter und renommierten Universitätsprofessor. Ritzels Roman (der natürlich an den vieldiskutierten Fall des Aachener Germanisten Schwerte alias Schneider erinnert) setzt dieses perfide Versteckspiel in sein Zentrum und umkreist beharrlich den sich windenden Mediziner und seine zum Geldadel zählende Familie. Nach und nach bündeln sich wie es ein ordentlicher Krimi verlangt die scheinbar unzusammenhängenden Stränge, und die Schlinge zieht sich enger und enger um den Hals des anfänglich unantastbar wirkenden Mörders. «Der Schatten des Schwans» ist ein Kriminalroman, der die Vorgeschichte seines Genres kennt. Dem Ermittlerduo um den knorrigen Kommissar Berndorf, einen «alten Kiberer», und seine attraktive Mitarbeiterin Tamar Wegenast meint man trotz ihren individuell gezeichneten Zügen schon einmal begegnet zu sein, und in sanfter postmoderner Anspielung werden wir daran erinnert, dass Friedrich Glausers Wachtmeister Studer und Simenons Maigret zu Berndorfs nahen Verwandten zählen. Der erfahrene Kommissar von der Ulmer Polizeidirektion ist einer, der sich mit den Errungenschaften moderner Kriminologie schwertut, der sich lieber in die Psyche der Verdächtigen versetzt, der einen genauen Blick für Alltagsmomente, für die Atmosphäre eines Raumes hat und dessen couragierte Fahndungsmethoden selbstverständlich den Unmut seiner unverständigen Vorgesetzten (vor allem, wenn sie aus der Landeshauptstadt Stuttgart kommen) hervorrufen. Und wie es sich für einen unkonventionellen Polizisten gehört, scheut er auch nicht vor Kunst und Philosophie zurück, um über den Tellerrand der täglichen Ermittlungsmühsal hinauszublicken. Montaignes «Essais» liest er mit grosser Sympathie, Gemälde Caspar David Friedrichs sind ihm nicht unvertraut, und dank Sarah Kirschs Gedichten lässt sich mit ihm trefflich über den Schwan als Todessymbol nachdenken. Nicht zuletzt: Kommissar Berndorf ist ein Whisky trinkender Einzelgänger, dessen Lebensgefährtin als Dozentin in der amerikanischen Ferne lebt. Ohne Frage: Ulrich Ritzels Début ist in vielem ein traditionell angelegtes Beispiel seiner Gattung. Manche Beschreibung wirkt abgegriffen («Drinnen roch es nach kaltem Rauch und abgestandenem Bier»), manche Figur wie der aalglatte Rechtsanwalt Schülin kommt direkt aus dem Klischeekasten, und auch das lesbische Coming-out der Kommissarin Wegenast überreizt die Plausibilität der Geschichte. Was den Roman aber über übliche Serientaten hinaushebt, ist sein geschickter Spannungsaufbau, der im Showdown vor dem Ulmer Münster einen famosen Höhepunkt findet. Die routiniert gehandhabte Schnitt-Technik gibt Ulrich Ritzel die Möglichkeit, die unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten ineinander zu blenden und so seine Stärke, die atmosphärische Verdichtung einer Szene, auszuspielen. Ritzels «Der Schatten des Schwans» zeichnet so das Porträt einer unscheinbaren Stadt, in der die sogenannten Honoratioren verzweifelt ihre feingetünchte Fassade hochhalten und den Filz von Geld und Macht als selbstverständlich ansehen. Die Kommissare Berndorf und Wegenast haben ihn unerschrocken durchstossen, dieses eine Mal wenigstens. Beide sind klug genug, um zu wissen, dass auch die schwäbische Mafia dadurch nicht zerschlagen sein wird . . . Grund genug also, so lässt sich mutmassen, für Ulrich Ritzel, sich neue Fälle mit seinem Zögling Berndorf auszudenken, in Ulm und um Ulm herum. Rainer Moritz
— Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.