„Wohl ist’s ersichtlich“, schnauzt der erregte Junker seinen Knappen an, „daß du in Sachen der Abenteuer nicht kundig bist; es sind Riesen, und wenn du Furcht hast, mach dich fort von hier und verrichte dein Gebet, während ich zu einem grimmen und ungleichen Kampf mit ihnen schreite“. Lesen kann verhängnisvoll sein. Wer wüßte nicht, mit wem es der „Ritter von der traurigen Gestalt“ (wie Ludwig Tieck ihn genannt hat) hier tatsächlich zu tun hat. Don Quijote ist ausgeritten, „um sich nach dem zu richten, was er in seinen Büchern gelesen“. Da kann der kluge Knappe Sancho Pansa sagen, was er will. Was weiß das Gesindel schon von den hohen Versprechungen der Literatur! Don Quijote hat zu viele Ritterromane gelesen, Cervantes variiert das Motiv eines Irrtums. In allen möglichen niederen Gestalten sieht der glücklose Abenteurer hohe Herren und Damen, denen er seine Wehr- und Ehrhaftigkeit beweisen muß — eben so, wie er es aus den Büchern kennt. Eigentliches Thema ist also der Unterschied von Leben und Lesen. Cervantes‘ Jahrtausendwerk, 1605-15 erschienen und laut Kindlers Literatur-Lexikon leicht „das wirkungsmächtigste Werk nach der Bibel“, markiert damit eine Schwelle in der europäischen Mentalitätsgeschichte: Buch und Welt, diese noch in der vorangehenden Renaissance innige Einheit, fällt in zwei grundsätzlich verschiedene Erfahrungsbereiche auseinander. Die Konsequenzen sind bekannt: Quijote wird verhöhnt, verprügelt, vertrieben. Wie später an Werther-Lesern zeigt die Disziplinierungsgeschichte des Geistes schon hier, wie wichtig die Umschaltkompetenz von Leben und Lesen ist. Eine Fähigkeit, die sich an der Schwelle zum 3. Jahrtausend möglicherweise als ebenso nützlich herausstellen könnte, da erneut ein grundlegender Wandel der Medien und zugleich unserer Wirklichkeitserfahrungen in vollem Gange ist. –Nikolaus Stemmer